Ein Bischof in geheimer Mission

Wie sich der Würzburger Oberhirte Franz Jung ehrenamtlich engagiert

Im Bistum Würzburg stehen radikale Veränderungen an. Für Bischof Franz Jung geht es dabei auch um einen neuen Blick auf die Welt. Mit einem persönlichen Engagement zeigt er, was das bedeuten kann – denn seit einem Jahr engagiert sich der Oberhirte bei der Bahnhofsmission am Würzburger Hauptbahnhof.

Ich hatte früher den Luxus, mit dem Zug bis direkt vor die Bürotür fahren zu können“, sagt Michael Lindner-Jung über die Bahnhofsgeräusche hinweg. Heutzutage fährt sein Pendlerzug von Gleis 11, am anderen Ende des Würzburger Hauptbahnhofs, das Büro direkt am Gleis 1 aber ist geblieben. Seit bald 38 Jahren hat Lindner-Jung hier seinen Arbeitsplatz: Er leitet die Würzburger Bahnhofsmission. Aus dem Besprechungsraum im Obergeschoss blickt man ebenerdig über die Bahnsteige. Wenn am Gleis 1 die Frachtwaggons vorbeirattern, wird es bei coronakonform geöffneten Fenstern lauter.

„An keinem Ort lerne ich so viel über das Leben wie hier“, sagt der Theologe über seine Arbeit. Das klingt abstrakt und das ist vielleicht auch gewollt, denn beim heutigen Gespräch soll es weniger um das Konkrete, sondern vielmehr um den tieferen Sinn der Arbeit der Bahnhofsmission gehen. Das war der Wunsch des zweiten Gesprächspartners, der gleich eintreffen soll.

Kümmere dich um die Armen!

„Bist Du bereit, um des Herrn Willen, den Armen und den Heimatlosen und allen Notleidenden gütig zu begegnen und zu ihnen barmherzig zu sein?“ Diese Frage hat sich Franz Jung ins Herz gebrannt. Mit ihr erklärt er, warum er an diesem Donnerstag wieder hier ist. Bei winterlichen Temperaturen draußen und heißem Chai-Tee in der Tasse erinnert er an den Sommer vor zwei Jahren, als er die Frage mit Ja beantwortete. Am Tag seiner Bischofsweihe hat er das Versprechen abgegeben, Menschen in Not mit mehr als warmen Worten und Almosen zu begegnen. Vor gut einem Jahr fand Franz Jung dann in Michael Lindner-Jung den Verbündeten, der ihm bei der Umsetzung seines Auftrags helfen sollte.

Und so kam es, dass Franz Jung, der im Hauptberuf Bischof ist, nun seit einem Jahr auch ein Ehrenamt ausübt; als Mitarbeiter der Würzburger Bahnhofsmission. Einmal im Monat ist er für vier Stunden hier, meist ab 16 Uhr. Er wartet dann hinter der Durchreiche gleich links hinter dem Eingang. Viele Gäste kommen nur bis zu diesem Fenster. Sie lassen sich vom Bischof einen Becher Tee geben und ein paar Lebensmittel einpacken. Ein belegtes Brötchen, etwas Obst, vielleicht noch etwas Süßes. In der Zwischenzeit schmieren die Ehrenamtler wie Franz Jung Brote, setzen neuen Tee auf, spülen Geschirr ab oder desinfizieren Tische. Der vielleicht wichtigste Dienst aber ist das Gespräch. Durch die Corona-Regeln dürfen nicht so viele Gäste in die Bahnhofsmission und auch nicht so lang wie sonst. Doch auch wenn die Kontakte weniger sind, bleiben sie für die Beteiligten sehr wichtig. Denn viele, die hier vorbeikommen, wollen einfach nur reden, über den Tag, anstehende Aufgaben, die Probleme ihres Lebens. Hier begegnet Franz Jung den Armen, Heimatlosen und Notleidenden.

Oft sind es Stammgäste, die für eine Tasse Tee und einen Imbiss in der Bahnhofsmission vorbeischauen.
„Das ist für mich heilige Zeit. Meine Sekretärin weiß, dass sie mir diese vier Stunden freihalten muss, komme was da wolle“, sagt Franz Jung über sein Ehrenamt. Außer der Assistentin und ein paar anderer Menschen im Bischofshaus habe er mit niemandem groß darüber gesprochen. Er wollte keine Öffentlichkeit für sein privates Engagement. Einige Gäste erkennen den Bischof, andere eben nicht. Aber Lindner-Jung hat ihn überzeugt und nun das Gespräch eingefädelt, bei dem es eben nicht um die Person, sondern den Dienst gehen soll.
Dabei ist es gar nicht so einfach, zu sagen, wer sich da jeden Monat die ikonische blaue Weste überstreift. Es ist sicher nicht allein der Privatmann Franz Jung, doch sein Bischofsamt spielt im Dienst auch nur eine nachgeordnete Rolle. Diese Rollen des Menschen Franz Jung geraten im Gespräch immer wieder durcheinander, legen sich übereinander.

Menschen werden plötzlich sichtbar

Zunächst kommt eben doch die persönliche Perspektive zu Wort. „Schon nach dem ersten Mal war die Welt anders“, berichtet dieser Franz Jung. „Man geht anders durch die Stadt.“ Mittags in der Kaffeepause oder zwischen zwei Terminen, die er im Stadtgebiet immer zu Fuß absolviert, fielen ihm plötzlich immer wieder Gäste der Bahnhofsmission auf, sagt er. „Wie oft ich jetzt in der Stadt den Paul (Name geändert) sehe … Er bekommt die Kurve einfach nicht.“ Bei seinen Reflexionen über die Menschen sitzt man einem nachdenklichen Mann gegenüber, der bedacht Gedanken in Worte fasst.
Eine Erkenntnis habe ihn zu Beginn besonders beeindruckt, erklärt Jung dabei. „Für die Menschen hier ist es die größte Aufgabe, den Tag zu bestehen.“ Den zweiten Halbsatz trägt er mit erstauntem Nachdruck vor. Gegenüber dem vollen, strukturierten Tag eines Bischofs wirkt die Herausforderung der Alltagsleere wie ein Problem aus einer anderen Welt. Aber es ist ein und dieselbe. Wohl auch deshalb ist Franz Jung, der Bischof, hier.

„Es geht darum, einfach nur da zu sein.” Das sei wahre Kontemplation. Es gehe nicht in erster Linie darum, die Welt zu retten, sondern sie wahrzunehmen, wie sie ist, sagt Jung. Auch deshalb habe er sich, der als Bischof oft „Potemkinsche Besuche“ erlebe, bei denen die Momentaufnahme nicht die Realität zeige, für diesen Dienst entschieden.
Lernort für die Kirche
Das immerwährende Angebot der Bahnhofsmission macht sie zugleich zu einem einzigartigen Kirchort im Bistum Würzburg. Hier werden zwei wichtige Zukunftsthemen des Bischofs schon heute sichtbar miteinander verwoben. Die Kontemplation, betonte Jung seit seinem Amtsantritt immer wieder, sei ihm ein Herzensanliegen. Das andere ist die Sozialraumorientierung, also die Ausrichtung aller Tätigkeiten auf die Lebensumstände der Menschen.
Der Bischof verbindet mit diesem Programm auch einen klaren Anspruch an sein Personal. „Zur Sozialraumorientierung gehört auch ein konkretes Engagement“, sagt er. Er wünsche sich Seelsorger, die aktiv danach suchen, wo sie gebraucht werden. Das ehrenamtliche Engagement kann dabei ein gutes Mittel sein. „Mir ist persönlich das Commitment wichtig, mich für einen Dienst zu verpflichten, aber ich will das auch halten können“, erklärt er. Mehr als vier Stunden im Monat seien in seinem Beruf eben nicht machbar. Aber der Bischof sagt auch: „Vier Stunden im Monat könnte eigentlich jeder machen.“

Gleich vier Stunden jede Woche ist Lilian Stumpf aktiv. Ein paar Tage nach dem Bischof wird sie die Mittagsschicht in der Bahnhofsmission übernehmen. Mit Humor und Güte versorgt sie die Menschen, die auf ein Stück Kuchen und eine Tasse nicht mehr ganz heißen Tee vorbeikommen. Ihr freundliches Lächeln sieht man auch hinter der Maske und hört es vor allem in der Stimme.
Sie habe im Leben viel Glück gehabt, wird sie beim Gespräch neben den Stockbetten erklären. Damit meint sie, dass es ihr an nichts mangelt und die Tiefpunkte im Leben für sie nicht unüberwindbar waren. Doch schon das, wisse sie, hätten viele Menschen nicht erleben dürfen. Dafür wolle sie mit ihrem Ehrenamt einen Ausgleich schaffen. Hier sei der richtige Ort dafür, weil sie gut mit Menschen umgehen könne und mit genau diesem Talent handeln wollte.

„Sie können so nicht mit der Kirche weitermachen“

Aber, wird sie mit einem entschuldigenden Unterton hinzufügen, sie sei „keine Standard-Christin“. Das heißt, sie gehe nicht jeden Sonntag in den Gottesdienst und orientiere sich eher an ihrem persönlichen Verständnis der Lehre Jesu. Ohnehin sei das mit der Kirche schwierig. In ihrem Bekanntenkreis gebe es kaum jemanden, der „so mit der Kirche weitermachen“ könne. Die Kirche, die da gemeint ist, ist nicht die Kirche, wie sie in der Bahnhofsmission sichtbar wird. Das ist vor allem eine Struktur, die sich selbst auf ein Podest stellt, sagt Stumpf. Da müsse die Kirche runterkommen.

Lilian Stumpf, die so engagiert im Dienst der Kirche an den Menschen steht, formuliert damit einen Anspruch, den auch der Bischof teilt. „Wir müssen das Paternalistische abstellen“, sagt er. Dabei sei der konkrete, caritative Dienst so wertvoll. Die Kirche erhalte durch ihn Einsicht in Lebenswelten. Sie müsse ihr eigenes System davon aber auch verändern lassen. Mit beinahe empörter Bestimmtheit fügt der Bischof hinzu, dass dies noch zu häufig an einer „Irritationsresistenz“ scheitere.

Menschen wie Michael Lindner-Jung und Lilian Stumpf haben diese längst abgelegt. Hier, in der Bahnhofsmission prallen Welten aufeinander, auch für die Kirche. Später, nach dem Gespräch, wird Franz Jung sich die blaue Weste überziehen und dann bei den Backshops in der Bahnhofshalle nach Ladenschluss das Übriggebliebene einsammeln. Es fühlt sich unglaublich weit weg an vom ersten Termin des Tages, einer Pressekonferenz, bei der Bischof und Bistumsleitung erklären mussten, dass künftig das Geld fehlen wird, um eine Reihe von Bildungshäusern weiter zu betreiben. In vielen Bereichen muss sich die Diözese Würzburg derzeit radikal, an die Wurzeln gehend, umorientieren. Es ist viel verlangt von dieser Ortskirche und ihrem Oberhirten. Der ist aber auch am Ende eines solchen Tages nicht weniger optimistisch. „Ich habe da gar keine Angst“, lässt er über seine Sicht auf die Zukunft wissen.

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